Der Soldat J. L. Gomez Tello der spanischen „Blauen Division“, einer Einheit mit 18.000 Mann, die im Zweiten Weltkrieg in Grafenwöhr ausgebildet wurde, hat 1955 Grafenwöhr besucht und seine Eindrücke über die Stadt in einer großen spanischen Zeitung veröffentlicht:
„Wer von uns, der nach 14 Jahren durch die stillen, friedlichen, von Heuduft erfüllten Straßen ging, hat sich nicht das Versprechen gegeben, dass er wieder einmal nach Grafenwöhr zurückkommen würde? Wer von uns hört nicht noch immer im Herzen die Uhr auf dem Marktplatz schlagen und erinnert sich an die Rückkehr entlang der Straße, die von Cafés und Wirtschaften, Gärten und Anliegen eingesäumt ist, die zur Wache führt, wo der Wachtposten stand und der Zapfenstreich geblasen wurde? Vor einigen Tagen bin ich, 14 Jahre später, in den kleinen bayerischen Ort zurückgekehrt, wo die Blaue Division fast einen Monat verbrachte. Ich hatte es versprochen, wie alle anderen es sich und der Erika, Monika, Elfriede, Christel, Annemarie versprochen hatten.
Wer von uns hat nicht geschworen, eines Tages im Frieden dieses Bild wiederzusehen, das Bild der weiten, vom Nebel eingehüllten Wiesen, der welligen grünen Hügel gegen den violetten Horizont der Abenddämmerung, den blauen Ring der Seen, die ausgedehnten Föhrenwälder. Jedes dieser Bilder birgt eine Erinnerung: den ersten Ausmarsch, bei dem wir das Lied von der Annemarie sangen, der Braut des Bataillons, der Braut derer, die in den Krieg zogen, ohne zu wissen, ob sie wiederkehren würden; den ersten Nachmittag, an dem wir die Uniform mit der stolzen spanischen Devise auf dem Ärmel trugen; die erste Feldmesse unter den Föhren; den ersten Ausgang und um alles zu sagen, auch den ersten Arrest.
Grafenwöhr! Erinnert ihr euch? Auf der Landkarte von Bayern bedeutet es einen winzigen kleinen Punkt für den, der nicht weiß, wie man dorthin gelangt. In unserer Erinnerung, in unseren Herzen, ist es ein großes und bestimmtes Bild, dessen deutliche Konturen verwischt sind und das in der Ferne leuchtet mit seinen Fenstern und Lichtern, vom Duft des Heus erfüllt und das in immer weitere Ferne entschwindet wie ein leuchtender Stern. Ich glaube, dass ich der erste Spanier bin, der nach dieser langen Zeit zurückgekommen ist. Drei Züge haben mich von Nürnberg aus durch dieselben Gegenden, die wir damals fuhren, dorthin gebracht.
Erinnert ihr euch noch an den Marktplatz? Er ist noch wie damals. Es ist dort noch der Gasthof Specht mit seinem altdeutschen Aussehen, das Café Meiler, das Geschäft von Hagenburger, der Gasthof Adler, das Gasthaus „Zur Post“. Es ist dort die steinerne Säule mit der Jungfrau Maria zur Erinnerung an die Toten des Ersten Weltkriegs und der Christus, welcher seine Arme ausbreitet an der Mauer der Kirche in einem Winkel, wo die Vögel zwitschern. Dieselben Fenster mit den blauen, weißen, roten Blumen davor, dieselben Straßennamen, die wir schon vergessen hatten, das Badgässl, die Türlgasse.
Ich bin wieder, wie damals, über diesen Marktplatz gegangen. Damals war er erfüllt von lärmender Fröhlichkeit der spanischen Soldaten. Jetzt an einem kalten, nebligen Nachmittag, liegt er leer und ausgestorben da, in einem Schweigen, das kaum unterbrochen wird von den Klängen des Klaviers aus dem Café, den Kirchenglocken, dem Geräusch eines Fahrrades, eines von Ochsen gezogenen Heuwagens, der langsam vorbeifährt.
Erinnert ihr euch an das Gasthaus Specht? Es ist noch wie damals. Dieselben Papierfiguren baumeln noch an der Decke, die Hirschgeweihe in der linken Ecke, die ländlichen Tische aus glattem, hellem Holz, die kleinen, mit Margariten gefüllten Vasen auf den Tischen, die Bronzeuhr, die schmiedeeisernen Lampen – alles noch wie es war. Am Radio hört man einen Jodler. Etwas hat sich geändert: Damals liefen drei Bedienungen eifrig hin und her, um die Spanier zu bedienen. Jetzt ist es eine einzige Bedienung, die ein paar alten Pfeifen rauchenden und Zeitung lesenden Grafenwöhrern das Bier bringt. Zwei schweigsame amerikanische Soldaten mit Brillen bilden die einzige militärische Note.
Wer ließ sich nicht ein Foto im Fotostudio Spahn machen? Es ist noch dasselbe. Aber auch hier sieht man nun Fotos von Jungen aus Arkansas an Stelle der Fotos von Madrider Studenten. Ich erkannte das alte graue Haus in der Alten Pfarrgasse wieder. War es damals blau oder rot? Und es sind noch dieselben Räume im Gasthaus „Zur Post“ mit den geblümten Vorhängen, mit dem Kreuz an der Wand. Auch Adelheid ist noch da. Erinnert ihr euch noch an Adelheid, die Wirtin von der „Post“. Sie erinnert sich noch gut an die kleinen fröhlichen Spanier. Als ich sagte, dass ich ein ehemaliger Angehöriger der Blauen Division sei, der Grafenwöhr einmal wiedersehen wollte, da hat sie in ihrem Gedächtnis ein halbes Dutzend spanischer Wörter zusammengesucht und sie in dem Ausdruck zusammengefasst, den man mir später am Zeitungsstand an der Brücke, in der Buchhandlung, im Zigarrenladen wiederholte: „Spanier gut!“. Ja, das ist Adelheid. Es sind 14 Jahre vergangen. Sie hat aus der Kommode einige verblichene Fotos hervorgeholt, Fotos von spanischen Soldaten, auf denen eine Widmung noch ganz frisch ist: „Der lieben freundlichen Adelheid zur Erinnerung von Alfred, 13. August 1941!“. Ich weiß nicht, wer dieser Alfred mit dem Schnurrbart und dem lachenden Gesicht ist; vielleicht einer derer, die gefallen sind, vielleicht einer von denen, die wiederkamen. Jedenfalls ist es wunderbar zu wissen, dass man nach 14 Jahren in einem kleinen bayerischen Ort noch Fotos von spanischen Soldaten aufbewahrt und Abzeichen der Blauen Division, die sie als Andenken verschenkten und dass man überall sagt: „Spanier gut!“.
Erinnert ihr euch an die bewusste Straße, die zum Lager führt? Einige Häuser wurden gebaut, andere sind ein wenig älter geworden und es gibt eine Maxim-Bar, in der Amerikaner sitzen. Es steht noch die Brücke über dem Bach. Es steht noch das alte Kastenhaus, in dem man die seidenen Fahnen aus dem 70er Krieg aufbewahrt. Damals war es Sitz der Hitlerjugend. Heute sind diese ehemaligen Hitlerjungen vielleicht irgendwo in Russland oder auf den europäischen Schlachtfeldern geblieben. Auch das Kino existiert noch. Aber jetzt spielt man nicht mehr „Gasparone“, sondern „Der Engel mit dem Flammenschwert“. Das rote Neonlicht fällt auf die dunkle Straße.
Heute ist Grafenwöhr Grenzland. 20 km von der tschechischen Grenze entfernt. Vielleicht wirkt es deswegen etwas traurig. Die sudetendeutschen Flüchtlinge, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, wohnen dort. Im Lager sind jetzt amerikanische Truppen. Ein amerikanischer Soldat steht Wache und in den Straßen sieht man „Jeeps“ und Autos amerikanischer Familien. Hinter dem Eingang zum Lager sieht man das Lazarett, die Baracke, die als Kino eingerichtet war, die großen breiten Straßen, auf denen wir oft singend dahinmarschierten.
Am 5. und 8. April 1945 hatte das Lager zwei große Bombenangriffe, die ganze Baracken wegrissen, wie man mir erzählte. Es gibt noch den Berg mit der Lourdesgrotte und den Inschriften in gotischen Buchstaben. Vor dem Bild der Mutter Gottes liegt ein Blumenstrauß für die Gefallenen von Grafenwöhr. Schweigend hüllt Dämmerung die Bäume ein.
Das ist Grafenwöhr von 1955, wo ich einige Stunden auf den Spuren der Blauen Division verbrachte. Ich dachte, es sei interessant, anlässlich dieses Jahrestages zu berichten, wie die kleine bayerische Stadt heute lebt, wo man noch, wenn einer sagt, er sei Spanier, antwortet: „Spanier gut!“. Das ist wunderbar. Deswegen wollte ich es erzählen. Es wird Nacht und durch den Nebel klingen die Abendglocken. Auf dem Marktplatz erhellen sich die Fenster unter dem grauen Himmel. Mir kommen sie vor wie kleine Kerzen für die Spanier, die hier vorbeikamen und nicht mehr nach Spanien zurückkehrten. Etwas muss man tun, dass diese Brücke der herzlichen Verständigung zwischen der Blauen Armee und Grafenwöhr nicht zerbricht. Etwas muss man tun für die Kinder von Grafenwöhr, die von Soldaten erzählen hörten, die in einem schönen sonnigen Land wohnen und von denen man sagt: „Spanier gut!“.